Sichtbarmachung von Zeitgenossenschaft
von Alejandro Perdomo Daniels,
Kunsthistoriker, arbeitet als Autor und Kurator
Seinen semantischen Ebenen entsprechend findet das Wort ‚Mesh’ Anwendung in verschiedenen Bereichen. In der Kunst, wenn nicht auf die computergesteuerte Gittererzeugung zur Modellierung von 3D-Objekten oder auf ein netzartiges Material bezogen, mag es als Anhaltspunkt für die Beschreibung produktions- und rezeptionsästhetischer Zusammenhänge dienen. Das Wort meint schließlich Geflecht bzw. netzartige Strukturen. Dabei hängt sein Spezifikum von dem Blick ab, der die Möglichkeit von dessen Verwendung annimmt. So ist Mesh als Titel der Meisterschülerausstellung der Hochschule für Künste Bremen im Jahre 2018 ein selbstreflexiver Verweis. Einer, der sowohl die situative Beschaffenheit der Ausstellung selbst wie die Faktoren, die ihre Konstitution bedingen, meint.
Auf einer anderen Ebene stellt die Meisterschülerausstellung als Format ein Geflecht langjähriger Traditionen dar, die in wechselseitiger Bedingtheit miteinander verflochten sind. Es handelt sich dabei um den Beziehungszusammenhang zwischen dem Ausstellungswesen und der Produktion zeitgenössischer Kunst. Dass diese Beziehung eine widerspruchsreiche Geschichte aufweist, belegt die Kunstgeschichte der Moderne. Denn die Entstehung und Entfaltung der modernen Kunst problematisierten den Legitimitätsanspruch der Institutionen, die deren Möglichkeit als autonomen Geltungsbereich hervorbrachten: Kunstakademien und Museen. Die Kunstakademien als Ausbildungsstätten für den künstlerischen Nachwuchs entwickelten sich aus dem Gedanken, die Errungenschaften dessen, was historisch als Kunst gilt, weiterzugeben. Das heißt die Verfestigung von Traditionen. Ihrem geschichtlichen Ursprung nach wuchs die Institution Museum aus den kaiserlichen Sammlungen unter Bezugnahme auf einen humanistischen Aufbewahrungs- und Bildungsgedanken. Im Kulturleben integriert, vereinnahmte das Museum jedoch den konstitutiven Begründungsanspruch hinsichtlich dessen, was es als Institution legitimierte: die Vorstellung von Kunst.
Dass zwei Institutionen, die ihrer Daseinsberechtigung nach der Förderung der Kunst dienen sollen, deren freie Entfaltung im geschichtlichen Prozess einschränkten, gilt als ein Paradoxon, das nicht nur mit dem normativen Charakter der Institutionen selbst, sondern auch mit den eigenwilligen Entwicklungen der Kunst zusammenhängt. Als Museen auf die Erhaltung des kulturell Gesicherten und Kunstakademien auf die Weitergabe künstlerischer Traditionen angelegt waren, entfaltet sich das Format der Salons, die eine spezifische Öffentlichkeitsform für die Kunstproduktion ihrer Zeit gewährleisteten. Im 19. Jahrhundert stellten sie dennoch nur das aus, was der akademischen Tradition entsprach. Ein Umstand, der dazu führte, dass sich abweichende Positionen dazu genötigt sahen, alternative Ausstellungsmöglichkeiten zu suchen. Und eben diese bildeten den Schauplatz, in dem die Moderne ihre Dissidenz erprobte. Denn nichts widersprach der Revisions- und Befragungspraxis fortschrittlicher Kunstformen wie die Konformität mit dem Überlieferten.
Der Anspruch der daraus resultierenden avantgardistischen Bewegungen war dennoch radikaler als die bloße Negation von Traditionen. Entwickelte sich aus dieser die Autonomie der Kunst, so entkoppelte sie sich auf ästhetischer Ebene in diesem Prozess von der Lebenspraxis, in der jede Kunstform kraft heterogener Beziehungsgeflechte letzten Endes verankert ist. Dabei stellte die durch eigenes Wirken errungene Kunstautonomie die Voraussetzung für die Möglichkeit der Avantgarde dar, die sich programmatisch vornahm, nicht nur den Geltungsbereich und die Wirkungsmacht der Kunst, sondern auch ihre Rolle in der Gesellschaft zu hinterfragen. Dass daraus die Entgrenzung des Werkbegriffes sowie neue Beziehungsmöglichkeiten zur Gesellschaft resultierten, gilt als ein Tatbestand der Kunstgeschichte, genauso wie die Tatsache, dass dem Ausstellungswesen ein bedeutungskonstitutiver Charakter zukommt, mit dem alle Kunst, sobald sie den Raum der Öffentlichkeit betritt, zu agieren hat. So erweist sich die Kunstausstellung als ein notwendiges Kriterium sowohl der Moderne wie der Gegenwart. Denn durch ihr Potenzial, die Normativität der Institutionen zu verfestigen oder zu sprengen, vermag sie die Kategorien ihrer eigenen Deutung zu definieren und damit die Wirkungskraft der Kunst in der Gesellschaft zu vergegenständlichen.
In der Gegenwart, einer Zeit, die von der Programmatik des Bruches befreit ist, gelten notwendigerweise andere Paradigmen, wobei diese keine Normativität im strengen Sinne darstellen. Stattdessen zeigt die Gegenwart eine komplexere Denk- und Fühlweise, die durch die Kondition einer umfassenden Verflechtung aller Lebensbereiche gekennzeichnet ist. Die digitale Revolution spielt dabei eine zentrale Rolle, insofern sie zu einer technologischen Transformation aller für die Gestaltung der Realität maßgeblichen Gebiete führte: von der Wirtschafts- und Arbeitswelt über die Kommunikation und die Öffentlichkeit bis hin zum Privatleben. Ein Umbruch, aus dem die Informationsgesellschaft der Gegenwart entstand und der dazu beitrug, dass sich eine Verflechtung der Bereiche Wirtschaft, Politik, Kommunikation, Kultur und Kunst auf globaler Ebene konsolidieren konnte. Durch diese Faktoren bedingt, gelingt es dem historischen Wandel, die Räume der erfahrbaren Realität als Bezugspunkt künstlerischer Schöpfung erheblich zu erweitern. Diese umfassen nicht nur das Vergangene, in dem das Selbstverständnis der Kunst als Kulturphänomen begründet liegt, sondern auch die unermessliche Pluralität des Zeitgenössischen selbst.
Es erweist sich als offensichtlich, dass Kunstakademien und Museen im historischen Kontext der Gegenwart eine veränderte Funktion erfüllen müssen, da sie nicht mehr über das Deutungsmonopol hinsichtlich der Vorstellung von Kunst verfügen. Sie dienen viel mehr, sofern ihre Aufgabenstellung nicht in der Pflege der Vergangenheit besteht, als Möglichkeitsraum für die Entfaltung neuer ästhetischer Diskurse und Praxen, deren Stichhaltigkeit im erweiterten Raum der Öffentlichkeit erprobt wird. So kommt einer Meisterschülerausstellung im musealen Kontext notwendigerweise eine besondere Bedeutung zu. Denn sie tritt dabei in ein bedeutungsgeladenes Verhältnis nicht nur mit ihrem eigenen Format als temporärerer Situation mit ästhetischem Gehalt ein, sondern auch mit den Institutionen, die deren Möglichkeit im historischen Prozess bedingt haben, und nicht zuletzt mit der Gesellschaft, in der sie rezipiert wird. Ob der Werkbegriff neuinszeniert oder abgelöst wird, ob die Kunstautonomie proklamiert oder problematisiert wird, ob der Blick auf die Gesellschaft und die Institutionen kritisch gerichtet wird oder nicht, oder gar ob die Überführung von Kunst ins Leben bzw. die Auflösung der Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst praktiziert wird, Zeitgenossenschaft wird dabei stets sichtbar. Die Meisterschülerausstellung bringt die Sprachen, die Künstlerinnen und Künstler in kreativer Auseinandersetzung mit ihrer Zeit entwickeln, zum Ausdruck. Darin liegt ihre punktuelle Bedeutung begründet. In ihrer allgemeinen Verfasstheit als Kulturphänomen – und dafür ist ihr Titel Programm – verweist die Meisterschülerausstellung auf die Möglichkeit, Zeitgenossenschaft mit den Mitteln der Ästhetik anschaubar zu machen.